Eveline Christof gemeinsam mit Beate Bauer, Barbara Gruber und Nina Hager Grundlagen qualitative Methoden I: das Interview – Theorie, Methode und praktische Anwendung (VO + UE) WS 06/07 Das narrative Interview Das narrative Interview als ganz spezifische Interviewform, hat sich Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre in Deutschland, im Bereich der Soziologie entwickelt. Als wichtige Vertreter sind hier Fritz Schutze und der „Arbeitskreis Bielefelder Soziologen“ zu nennen.
Schaut man in die Entstehungsgeschichte zuruck, dann lasst sich eine Reihe von Grunden anfuhren, warum der Arbeitskreis der Bielefelder Soziologen eine neue Erhebungsmethode konzipiert hat. Unter dem Einfluss des Positivismusstreits in der Soziologie der siebziger Jahre herrschte gro? e Unzufriedenheit mit fehlenden Zusammenhangen oder Beziehungsformen zwischen empirischer Forschung und Theoriebildung. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Einsatz von bestimmten Verfahren fehlte ebenso wie eine methodische Kontrolle derselben.
Direkt im Feld gelangten ForscherInnen immer wieder an Grenzen, die den Zugang zu den ProbanInnen erschwerten, da diese standardisierte Interviews als „fremd“ und „entfremdend“ ablehnten. Fritz Schutze wollte mit der Entwicklung des narrativen Interviews eine Datenerhebungsmethode gestalten, in welcher InterviewpartnerInnen ihre alltaglichen kommunikativen Fahigkeiten entfalten konnen, ungeachtet vorgefertigter Schemata, welche fur ForscherInnen sicherlich einfacher zu handhaben waren. Das narrative Interview eignet sich als Erhebungsinstrument immer dann besonders gut,
Befragte werden in dieser Interviewform gebeten einen bestimmten Ausschnitt aus ihren Leben oder auch das Leben in seiner Gesamtheit (narrativ-biographisches Interview, Schutze 1983) moglichst spontan, zunachst ohne Ruckfragen seitens der interviewenden Person zu erzahlen. Ein erzahlungsgenerierender Stimulus wird gesetzt, der diese Stegreiferzahlung der Befragten hervorrufen soll. Zu Beginn dieser ersten Erzahlung sollen die Befragten nicht dazu aufgefordert werden das Erzahlte zu begrunden, zu theoretisieren oder zu bewerten. Welche Themen sind fur den Einsatz von narrativen Interviews geeignet?
Geeignet sind in gewisser Weise „problematische“ Ereignisse, welche fur die Befragten aus ihrer Routine hervortreten, wie Krisen, Bruche, Veranderungsprozesse, Entwicklungen mit einem Anfang und einem Ende, wo Grenzen der Erfahrung sichtbar werden oder eine Neukonstruktion bisheriger Handlungsweisen notwendig wird. Blickt man in die Geschichte der Entwicklung dieses Interviewtypus zuruck, dann waren diese problematischen Anlasse in ersten Untersuchungen bei Schutze in den 1970er Jahren Fusionen von Gemeinden im Zuge von Verwaltungsreformen.
Damals wurden diese Veranderungen und Entwicklungen von beteiligten Kommunalpolitikern in Interviews geschildert. Wie lauft ein narratives Interview ab? Am Anfang, zum Einstieg in das Interview steht eine Erzahlaufforderung, welche die Befragten zu einer Haupterzahlung veranlassen soll. Wahrend dieser Haupterzahlung sollen die Befragten durch keinerlei (Nach-)Fragen unterbrochen oder gelenkt werden. Schutze zufolge wird die 34 Eveline Christof gemeinsam mit Beate Bauer, Barbara Gruber und Nina Hager Grundlagen qualitative Methoden I: das Interview – Theorie, Methode und praktische Anwendung (VO + UE) WS 06/07
Erzahlung durch im Interview wirksame Erzahlzwange gesteuert (Schutze 1982 und 1987): Der Gestaltschlie? ungszwang meint einen Zwang, angefangene Themen weiterzufuhren, Erzahlstrange zu generieren und Themen auch in irgendeiner Art und Weise abzuschlie? en. Beim Kondensierungszwang geht es darum, dass das Erzahlte vom Erzahler/ von der Erzahlerin soweit « verdichtet » wird, dass in der in einem Interview logischerweise nicht unendlich zur Verfugung stehenden Zeit moglichst viel erzahlt werden kann, das aber auch noch fur die Zuhorerin/ den Zuhorer nachvollziehbar bleibt.
Diesem Zwang steht der Detaillierungszwang entgegen. Dieser Mechanismus bewegt die Interviewten dazu, notige Hintergrund- oder Zusatzinformationen einzubringen, die fur das korrekte Verstandnis der Erzahlung erforderlich sind. Zusammengenommen sollen diese Zwange dafur sorgen, dass einerseits die wichtigsten Ereignisse berichtet werden, andererseits das Interview fur die Beteiligten – Befragte wie Befragende – handhabbar bleibt. Die Haupterzahlung wird meist abgeschlossen durch eine Erzahlkoda, also eine Au? rung, die das Ende der Erzahlung signalisiert, wie bspw. « Ja, das war’s eigentlich ». Auf diese oft langere Redephase der Interviewten kann der/ die InterviewerIn zu bestimmten Teilen nachfragen, das konnen eher narrative Nachfragen sein – die wiederum zum freien Erzahlen auffordern sollen – oder aber beschreibendes theoretisch-argumentatives Nachfragen, das eher an Inhalten, Begriffen oder Begrundungen interessiert ist. Schutze unterscheidet zwei Formen des Nachfragens: Immanente Nachfragen, also solche, die sich direkt auf das vorher Erzahlte beziehen (bspw.
Unklarheiten, Dinge, die nur angedeutet, aber nicht ausgefuhrt wurden, unklare Begriffe, Details, …), und exmanente Nachfragen, die sich auf Sachverhalte oder Probleme beziehen, die vom Befragten zunachst nicht explizit angesprochen wurden, die aber dem/ der InterviewerIn aus bestimmten Grunden wichtig erscheinen. Hier kommt naturlich auch die Forschungsfrage der Fragenden ins Spiel – wurde diese mittels der Erzahlung beantwortet, fehlt noch ein Bereich, bedarf es gewisser Erganzungen? Auch in dieser Nachfragephase sollen die Befragten moglichst zu Erzahlungen animiert werden.
Am Ende eines narrativen Interviews steht die Bilanzierungsphase, in der das bisher Erzahlte abschlie? end zusammengefasst und bewertet werden soll. Der/ die InterviewerIn versucht einen „Bogen“ uber das ganze Interview zu spannen, die wichtigsten „Stationen“ zu nennen und dann der/ dem Interviewten zur Bewertung und Bilanzierung zu ubergeben. Au? er das Geschehene zu bewerten, konnen noch zusatzliche Erklarungen vom/ von der Befragten gebracht werden. (kommunikative Validierung) Anwendungsformen des narrativen Interviews
Interaktionsfeldstudie: Hier sollen eine oder mehrere soziologisch relevante Ketten von Begebenheiten rekonstruiert werden, die fur ein Feld relevant sind. Voraussetzung dafur ist, dass die InformantInnen an diesen Ereignissen beteiligt waren – in unterschiedlichen Rollen. Ziel ist ein ereignisspezifischer Kreuzvergleich zwischen den verschiedenen narrativen Darstellungen einer identischen Ereigniskonstellation. Narratives Experteninterview: auch hier geht es um die Rekonstruktion eines Interaktionstableaus, wobei die narrativen Thematisierungen nur Teilebereiche eines zum Gro? teil nicht narrativen Interviewverlaufs sind.
Aus den allgemeinen Formulierungen des Informanten werden unter Ruckgriff auf Vorinformationen 35 Eveline Christof gemeinsam mit Beate Bauer, Barbara Gruber und Nina Hager Grundlagen qualitative Methoden I: das Interview – Theorie, Methode und praktische Anwendung (VO + UE) WS 06/07 narrative Gesprachsteile angeboten. Allgemeine Beschreibungen von Zustanden und Ablaufen bleiben vergleichbar, Details weichen ab – auch wenn nur wenige Experten eines Felds befragt werden. Analyse von Statuspassagen: Gegenstand sind hier besonders Ausbildungs- und Berufskarrieren sowie „Betroffenen-Karrieren“ (bspw.
Obdachlose). Grundlage hierbei ist eine Art Vergleichsfolie, welche bestimmte Punkte, Themen, Abschnitte festlegt, nach welcher die Darstellungen der Informanten verglichen werden konnen. Analyse von biografischen Strukturen: Hier existiert keine Befragungsfolie (etwa nach zentralen historischen Ereignissen, formalen Karriereplanen oder „StandardLeidensgeschichte“). Die Frage ist, inwieweit es aber vergleichbare allgemeine Strukturpunke gibt, nach welchen sich Biografien gestalten – allgemeine „Passagepunkte“. Gibt es allgemeine biografische Strukturen? Verhalten der Interviewerin/ des Interviewers
Typisch fur das narrative Interview ist, dass Erzahlungen im Unterschied zu anderen Textgenres generiert werden. Befragte sollen also nicht in erster Linie berichten, beschreiben, begrunden oder argumentieren, sondern in Bezug auf den relevanten Gegenstandsbereich selbst erlebte Ereignisse und die eigene Beteiligung daran entlang der Zeitachse rekonstruieren: wie alles anfing; wie sich die Dinge entwickelten; was daraus geworden ist. Dabei bedient man sich einer grundlegenden Kompetenz der Befragten, denn Erzahlungen sind gesellschaftsweit geubte und gepflegte Verfahren der Entwicklung von Sinnhorizonten und Situationsdefinitionen.
Prinzipiell kann namlich von der These ausgegangen werden, dass in der narrativ-retrospektiven Erfahrungsaufbereitung sowohl die Interessen- und Relevanzstrukturen, im Rahmen derer der Erzahler als Handelnder im Verlauf der zu erzahlenden Ereignisabfolge handelte, als auch das Komponentensystem der elementaren Orientierungs- und Wissensbestande zur Erfahrungsaufbereitung und zur Handlungsplanung in der zu berichtenden Ereignisabfolge im aktuell fortlaufenden Darstellungsvorgang reproduziert werden mussen, so lange erzahlt wird. (Schutze 1977).
Vom Forscher/ von der Forscherin wird nach Schutze ins Interview stillschweigend eine „Fragen- und Erzahlfolie“ mitgebracht. Diese wird ganz besonders zu Beginn eines Interviews, der Anfangserzahlung „mit sprechsituationsspezifischen Bestandteilen angereichert oder gar in dramatischen Fallen abgewandelt. “ (Schutze 1977, 35) Diese vom Informanten/ von der Informantin eingebrachten, in der Situation des Interviews spezifischen Anteile betreffen vor allem seine/ ihre personliche Erlebnisperspektive und deren subjektiver Sichtweise. Im narrativen Interview spielt die Gestaltung der Datenerhebungssituation eine wichtige Rolle.
Der/ die InterviewerIn begibt sich in die Lebenswelt der InterviewpartnerInnen und versucht eine « amicale » Atmosphare herzustellen, um die/ den PartnerIn beim Erzahlen ihrer Alltagssituationen moglichst wenig zu storen. In ethnografischen Kontexten sind die ForscherInnen sogar darum bemuht Teil der Lebenswelt der Untersuchten zu werden, mit ihnen zu leben, sich genauso zu kleiden und so zu sprechen. Diese Vorgehensweise grundet sich auf die Annahme, dass ein amicaler Umgangsstil die/ den InterviewpartnerIn dazu anregt moglichst unbefangen zu erzahlen.
Ein weiteres Merkmal nicht-autoritar strukturierter Kommunikation – wie sie im Falle eines narrativen Interviews angestrebt wird – ist, dass Gegenstandsbereiche, die von der einen Interaktionspartei angesprochen wurden, ihren Tabucharakter verlieren – so sie vorher einen hatten – und nun auch von der anderen an der Kommunikation beteiligten Person angesprochen werden konnen. 36 Eveline Christof gemeinsam mit Beate Bauer, Barbara Gruber und Nina Hager Grundlagen qualitative Methoden I: das Interview – Theorie, Methode und praktische Anwendung (VO + UE) WS 06/07
Im Interview ist darauf zu achten, dass exmanente Fragen mehr und mehr durch immanente ersetzt werden, denn immanente Fragen nehmen auf das Bezug, was von der interviewten Person als „Diskussionsuniversum“ (Schutze 1977, 38) hergestellt wurde. Exmanente Fragen der Forscherin/ des Forschers zielen darauf ab, dieses vom Informanten/ von der Informantin vorgeschlagene Universum auszuweiten um der Vorab-Erzahlfolie moglichst gut und vielgestaltig zu genugen. Auch wenn der/ die InformantIn nicht darauf eingeht den eigenen Erzahlhorizont zu erweitern, entsteht impliziter Rechtfertigungsdruck und eine gewisse Entschuldigungshaltung.
Girtler spricht von der Haltung der Neugier, die der Motor von SozialforscherInnen sein muss, eine fragende Haltung, „die Lust hinter die Schleier der Wirklichkeit zu schauen. “ (2001) Genau das soll die Haltung der InterviewerInnen sein, prinzipielle Offenheit dem gegenuber, was von den InterviewpartnerInnen kommt, echtes Interesse fur deren Erzahlungen. Diese Momente werden besonders uber Korperhaltung, -sprache wie Nicken und durch kleine verbale Bestatigungen wie ja oder mhm zu vermitteln sein.
Zu Beginn des Interviews empfiehlt es sich auch langere Gesprachspausen (Nachdenkpausen) zuzulassen und noch nicht nachzufragen, eventuell die eine oder andere Frage mittels einer anderen Formulierung erneut zu stellen. Die interviewende Person soll die Informantin/ den Informanten dazu anregen, auf samtliche Strukturpunkte der Vorab-Erzahlfolie detailliert einzugehen („Eigentheorien“ – subjektive Theorien, ausschopfen des Erzahlpotenzials). Der/ die ForscherIn kann dabei auch auf angedeutete oder unmittelbar angrenzende Bereiche mit der Bitte um nahere Ausfuhrung eingehen.
Diese Form von Offenheit im narrativen Interview verlangt au? erst gute Schulung und ungeteilte Aufmerksamkeit bei den InterviewerInnen. Gleichzeitig mussen jene auch besonders gut in das zu erforschende Themengebiet eingearbeitet sein (Vorabinformationen uber das Feld sowie theoretische Hintergrunde), um wichtige Bereiche von unwichtigen unterscheiden zu konnen und das oberste Ziel des Interviews – moglichst authentische und detaillierte Erzahlungen, welche moglichst viele Bereiche ihrer Vorab-Erzahlfolie abdecken bei den InterviewpartnerInnen „hervorzulocken“ – direkt, aber keinesfalls drangend verfolgen.
Literatur: Girtler, Roland (2001): Methoden der Feldforschung. Wien, Koln, Weimar: Bohlau Verlag Glinka, Hans-Jurgen (1998): Das narrative Interview. Eine Einfuhrung fur Sozialpadagogen. Weinheim und Munchen: Juventa Verlag Schutze, Fritz (1977): Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien – dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen. Manuskript 37